Der Europäische Wirtschaftsraum nach 30 Jahren

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Am 6. Dezember 1992 war die Schweiz das einzige Land der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), das dem damals neuen «Europäischen Wirtschaftsraum» nicht beitrat. Was ist dreissig Jahre später aus diesem Abkommen geworden, das damals von einigen als «Trainingslager» bis zum Beitritt zur Europäischen Union betrachtet wurde?

Zufriedenheit mit EWR

Seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1994 funktioniert der Europäische Wirtschaftsraum EWR über all die Jahre zur Zufriedenheit der heute 30 EWR-Staaten sowie der EU-Institutionen. Dies zeigt auch, dass die EU im EWR gegenüber anderen beitrittsfähigen, aber nicht beitrittswilligen Staaten die Grundsätze verwirklicht sieht, die sie für eine Teilnahme am Binnenmarkt von Nicht-EU-Mitgliedstaaten verlangt.

Die Rechtsübernahme erfolgt dynamisch – manchmal schneller, manchmal weniger schnell, weil z.B. inhaltliche (Unionsbürgerrichtlinie) oder strukturelle (Europäische Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörden) Anpassungen notwendig sind. Da das EWR-Abkommen in erster Linie ein Abkommen zugunsten von Bürger:innen und Unternehmen ist, können sich diese auch in Island, Liechtenstein und Norwegen z.B. gegen Zumutungen der eigenen Behörden wehren. Dafür sorgen eine Aufsichtsbehörde und ein Gerichtshof der drei EWR/EFTA-Staaten. Bei der Auslegung von EWR-Recht, also der übernommenen EU-Rechtsakte, orientiert sich letzterer an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), so wie dieser seiner Rechtsprechung gegebenenfalls früher ergangene Entscheidungen des EFTA-Gerichtshofs zugrunde legt. Der EFTA-Gerichtshof berücksichtigt aber durchaus auch die Besonderheiten des EWR, beispielsweise, dass er keine Zollunion ist.

Der EFTA-Gerichtshof, wie auf der EU-Seite der EuGH, entscheidet Streitfälle, an denen Bürger:innen, Unternehmen, staatliche Behörden oder auch die Überwachungsbehörde selbst beteiligt sind. Dies führt wiederum zu einer weitgehend übereinstimmenden Praxis der beiden Gerichte. In der Folge kommt es äusserst selten zu Differenzen zwischen den EFTA-Staaten und der EU-Seite. Diese wurden bisher alle im Gemeinsamen EWR-Ausschuss (Joint Committee) beigelegt. Zu einem Streitschlichtungsverfahren ist es zwischen den Vertragsparteien daher noch nie gekommen.

Wie sehen die drei EWR/EFTA-Staaten den EWR?

Island hat zwar 2009 einen EU-Beitrittsantrag gestellt, diesen aber 2015 wieder zurückgezogen. Liechtenstein hat durch den EWR-Beitritt an Souveränität gewonnen. Gegen Ende der 1980er-Jahre drohte Liechtenstein durch sein Vertragsverhältnis mit der Schweiz – bis dahin durchaus selbst gewollt – zu einem Kanton ohne Rechte zu werden. Im Vergleich dazu teilt das Land heute in Binnenmarktangelegenheiten seine Souveränität mit 29 anderen, zum Teil wesentlich grösseren europäischen Staaten. Die Zustimmung zur EWR-Mitgliedschaft ist in Liechtenstein von 55,8% (1992) auf ca. 75% (2020) gestiegen. Schaut man sich schliesslich Norwegen an, so ist der EWR derzeit geradezu als staatlicher Kompromiss anzuschauen: Die norwegische Bevölkerung hat 1972 und 1994 einen EUBeitritt abgelehnt. Gleichzeitig bestehen die Regierungen der letzten Jahrzehnte zumeist aus Koalitionen, bei welchen die führende Grosspartei, also die Arbeiterpartei oder die Konservativen, für einen EU-Beitritt ist, ihre jeweiligen kleineren Koalitionspartner aber zumeist nicht. Deshalb ist der EWR in der norwegischen Politik, kurz gesagt, nicht verhandelbar, da er das innenpolitische Gleichgewicht zwischen den aussenpolitischen Positionen garantiert.

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10.11.2022

Dr. Georges Baur

GEORGES BAUR ist derzeit als Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut tätig. 2019 war er Visiting Fellow am Centre for European Legal Studies der Universität Cambridge. Von 2012 bis 2018 arbeitete er als Assistant Secretary General der EFTA in Brüssel. Er war dort u.a. für die Verwaltung und das praktische Funktionieren der Rechtsübernahme im EWR, den Rechtsdienst sowie die Parlamentarier- und Sozialpartnerkomitees verantwortlich. Zudem war er für weitere Drittstaatsangelegenheiten sowie den Brexit zuständig. Zuvor war er Stellvertretender Chef der Mission des Fürstentums Liechtenstein bei der EU, ebenfalls in Brüssel. Von 2000 bis 2003 war Georges Baur Berater der Regierung des Fürstentums Liechtenstein in Finanzplatzangelegenheiten. Zwischen 1989 und 2000 war er in Liechtenstein als Jurist in einer Bank sowie in einer Anwaltskanzlei tätig. Georges Baur hat an der Universität Zürich sein Doktorat erworben und besitzt die Zulassung als Anwalt in der Schweiz. Er hat zu verschiedenen Themen des Europarechts sowie zum liechtensteinischen Recht publiziert.
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