Die Europäische Union ist historisch betrachtet einzigartig. Zwar prägten schon vor Jahrhunderten venezianische und hanseatische Kaufleute den Welthandel, und heute sind – nebst der EU – die USA und China die Giganten der Weltwirtschaft. Die Wirtschaftsmacht allein ist aber auch nicht das, was die Union ausmacht. Ihre Einzigartigkeit und ihr Einfluss liegt im freien Willen von siebenundzwanzig Staaten, sich zusammenzuschliessen, um gemeinsam einen Raum des Friedens, der Demokratie, der Gerechtigkeit, der Gleichheit sowie der Achtung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zu schaffen. Diese und andere Werte bilden die Grundlage der Union.
Ein Staat, der sich diesen Werten nicht verpflichten will, kann der Union nicht beitreten. Und dies ist bei einem Beitritt hinreichend bekannt, denn die Verträge werden von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet und von den Parlamenten ratifiziert – in Ländern mit Volksabstimmung sogar auch von den Bürger:innen.
Die Unterzeichnenden verpflichten sich nicht nur, die Werte zu respektieren, sondern auch, sie zu fördern (Art. 3 und 49 des Vertrags von Lissabon). Denn die Union will die Demokratie als Staatsform so weit wie möglich in der Welt verbreiten. Nun ist die EU aber glücklicherweise nicht der einzige Hort der Freiheit und der liberalen Demokratie, nicht die einzige Hüterin der Menschenrechte oder die einzige Institution, die für die Unabhängigkeit der Justiz eintritt. Aber sie ist die einzige Region, welche all diese Werte und ihre Durchsetzung zur zwingenden Verpflichtung und zur Grundlage einer engen zwischenstaatlichen Union macht. Das macht die EU einzigartig.
Im Lauf der Jahrzehnte und mit der schrittweisen Erweiterung der EU hat sich die liberale Demokratie in Europa verbreitet, und das Modell der EU hat – in unterschiedlichem Masse – regionale Zusammenschlüsse auf anderen Kontinenten inspiriert. Um jedoch langfristig als Vorbild und Inspiration zu dienen, muss die EU ihre Errungenschaften schützen. Die wirtschaftliche Prosperität der EU weckt zwar noch im-mer das Interesse verschiedenster Partner, und Europa ist noch immer das Wunschziel vieler Menschen aus ärmeren Weltgegenden. Aber das demokratische Modell scheint an Attraktivität zu verlieren.
Verschiedene Staaten – allen voran Ungarn und Polen – haben es sich zur Aufgabe gemacht, das demokratische Gesicht der Union zu entstellen. Polen geht sogar so weit, den geltenden Vorrang der EU-Rechtsordnung abzulehnen. Ein solches Verhalten missachtet nicht nur die einst vereinbarten gemeinsamen Regeln, sondern es schwächt die EU als Ganzes und stärkt ihre Gegner.
Kein Wunder, dass dieses Verhalten in aller Munde ist und Misstrauen hervorruft, wenn andere europäische Länder – so die sechs beitrittswilligen Staaten des Westbalkans, die sich am 6. Oktober in Slowenien mit den Staats – und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten trafen – schwören, die gemeinsamen europäischen Werte respektieren zu wollen.
Der Vertrag von Lissabon brachte das Recht, auch wieder aus der Union auszutreten. Grossbritannien nutzte diese Neuerung erstmals. Es gibt jedoch im EU-Recht keine Klausel, die den Ausschluss eines Mitgliedstaates erlaubt. Ein Land, das sich schwere Fehler zuschulden kommen lässt,
kann sanktioniert werden – künftig auch finanziell. Doch für eine Entmachtung – für den Entzug des EU-Stimmrechts (wie in Artikel 7 des Vertrags vorgesehen) – braucht es die Zustimmung sämtlicher übriger Mitgliedstaaten. Solche Einstimmigkeit ist jedoch schwer zu erreichen und solange Budapest und Warschau zusammenstehen, ist sie praktisch undenkbar.
Wenn diese Staaten nicht rasch zur Achtung der gemeinsamen Werte zurückgeführt werden, droht eine allmähliche Erosion des europäischen Zusammenhalts – und damit verbunden der Zerfall der Union. Dies gibt Anlass zur Sorge.