Die Schweiz ist in einer Neutralität gefangen, die es nie gegeben hat

Eine Flagge der Schweiz weht im Himmel.
In Bezug auf die Neutralität argumentiert der Bundesrat so, als ob die Schweiz nicht mitten in der Europäischen Union eingebettet wäre. Er klammert sich an einen juristischen Ansatz wie an einen Rettungsring.

Der Krieg in der Ukraine stellt eine bedeutende geopolitische Veränderung dar, die für die Demokratien des europäischen Kontinents sogar existenziell ist. Seine Folgen lassen sich nicht mit den üblichen aussenpolitischen Instrumenten erfassen. Der Grossteil der europäischen Länder hat umfangreiche Kursanpassungen vorgenommen: Deutschland hat seinen merkantilistischen Pazifismus revidiert, Schweden und Finnland wollen der NATO beitreten.

Die Schweiz hingegen interpretiert und benutzt ihre Neutralität seit fast einem Jahr, als wäre diese ein Zweck an sich und kein Mittel. Sie ist in einer mythischen Vision ihrer Vergangenheit gefangen und verlässt sich auf Texte, die mehr als ein Jahrhundert alt sind (die Haager Konventionen stammen aus dem Jahr 1907), anstatt sich Handlungsspielraum zu verschaffen, um die Werte der Unabhängigkeit und Freiheit zu verteidigen, die durch die russische Aggression mit Füssen getreten werden.

Der Mythos Schweizer Neutralität

Dabei war die Schweiz im Laufe ihrer Geschichte selten absolut „neutral“, d. h. vollkommen konfliktresistent. Der politische Diskurs hält jedoch die Vorstellung aufrecht, die Eidgenossenschaft habe sich aus Kriegen herausgehalten und sollte dies auch weiterhin tun. Die einzige konstante Haltung der Schweiz seit Marignano 1515 war, nicht kriegsführend zu sein. Als Staat weder den Krieg zu erklären noch zu führen. Denn abgesehen davon haben sich die Schweizer immer wieder in Konflikte eingeschaltet und waren darin verwickelt.

Über drei Jahrhunderte lang nahmen sie als Söldner daran teil, hauptsächlich im Dienst des französischen Königs, aber auch für andere Herrscher. Die Tagsatzung musste Wege finden, um zu verhindern, dass sich Soldaten aus verschiedenen Kantonen gegenseitig umbrachten, wie etwa in der Schlacht von Malplaquet im Jahr 1709. Während der Revolutionszeit geriet die Schweiz in Turbulenzen, wurde von französischen Truppen und später von den Truppen der Heiligen Allianz besetzt.

Während des Ersten Weltkriegs beflecken mehrere Skandale die Neutralität: Oberstleutnante leiteten Informationen an Deutschland und Österreich-Ungarn weiter, Bundesrat Hoffmann und Nationalrat Grimm lancierten den Versuch eines deutsch-russischen Separatfriedens. Obwohl der Bundesrat nach der Teilnahme am Völkerbund die Rückkehr zur „vollständigen“ Neutralität verkündete, lieferten viele Unternehmen, allen voran Bührle, Waffen und Munition an Nazi-Deutschland und das faschistische Italien.

Auch im Kalten Krieg verhielt sich die Schweiz nicht so neutral, wie es die offiziellen Verlautbarungen vermuten lassen: Die Schweiz war eindeutig – und mehr oder weniger heimlich – auf die Positionen des westlichen Blocks ausgerichtet. Davon zeugen unter anderem die Enthüllungen über die P26 oder die Crypto-Affäre.

Ein Zeichen der Solidarität

Diese wenigen Episoden zeigen, dass es ein grosser Fehler der aktuellen Bundesräte ist, die Genehmigung für die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial in die Ukraine stur zu verweigern. Ihre Vorgänger waren viel pragmatischer oder weitsichtiger, wobei sie oft dem Geschäft und manchmal der Moral den Vorzug gaben.

Sicher ist, dass die Eidgenossenschaft nach Konflikten von den Siegern immer aufgefordert wurde, ihre Zweideutigkeiten zu erklären. Hat Bern die Lehren aus der Affäre um die nachrichtenlosen Vermögen vor knapp 25 Jahren völlig vergessen?

Von der Schweiz wird nicht verlangt, direkt Waffen an die Ukraine zu liefern, sondern dies den Staaten zu überlassen, die Kunden von Schweizer Herstellerfirmen sind. Angesichts der Tatsache, dass sich der Bundesrat bereits den europäischen Sanktionen gegen Russland angeschlossen hat, wäre die Einwilligung an die Weitergabe von Kriegsmaterial ein Zeichen der Solidarität für eine Ukraine, die nicht beschlossen hat, Krieg zu führen, sondern brutal angegriffen wurde, und die keine andere Wahl hat, als für die Verteidigung ihrer Unabhängigkeit und Freiheit zu kämpfen.

Die Schweizer:innen sollten den extremen Ernst der aktuellen Situation stärker bedenken: Sie sollten nicht länger zögern, sondern sich voll und ganz mit den Ukrainer:innen und den Europäer:innenn solidarisieren, die uns im Falle einer Ausweitung des Konflikts de facto verteidigen würden.​

 

Eine erste Version dieses Textes erschien auf dem Blog «Regard bleu, point de vue européiste», der von Le Temps gehostet wird.

Chantal Tauxe
24.02.2023

Chantal Tauxe

Vizepräsidentin der Europäischen Bewegung Schweiz
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