Europäischer Schiffbruch

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Zur allgemeinen Überraschung beschloss der Bundesrat am 26. Mai 2021, das lange ausgehandelte Rahmenabkommen mit der EU zu beerdigen. Dieser einseitige Verhandlungsabbruch war unschweizerisch. Gutschweizerisch wäre es gewesen, einen Kompromiss zu erzielen und damit den Vertrag in trockene Tücher zu bringen.

Heute ist klar, dass dieser Entscheid ein historischer Fehler war. Er hat keines der bestehenden Probleme gelöst, sondern hat sie verschärft und zusätzliche Schwierigkeiten geschaffen.

Die ersten Leidtragenden waren Studierende, Forschende, Schulen und Universitäten, die von den europäischen Programmen ausgeschlossen wurden. Als nächstes traf es Medtech-Unternehmen, da die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (MRA) nicht aufdatiert wurde. In immer mehr Bereichen verschlechtert sich der Zugang zum europäischen Markt. Neben der Erosion der bilateralen Abkommen führt das Scheitern des Rahmenabkommens zu einer Marginalisierung der Schweiz.

Die europäische Krise der Schweiz ist nicht nur struktureller, sondern auch kultureller Art. Während in allen Gesellschaftsschichten der Souveränitätsgedanke um sich griff, hat das Wissen über die EU, ihre Politik und ihre Funktionsweise stetig abgenommen. Dreissig Jahre nach dem Nein zum EWR hat die Schweiz ihre Orientierung verloren. Verwirrt, gespalten und von Vorurteilen geblendet, scheint sie nicht mehr in der Lage zu sein, eine rationale Europa-Debatte zu führen.

Dieser Schiffbruch ist umso schlimmer, als dass die Ukraine von einem imperialistischen Russland angegriffen wurde, das davon träumt, die europäischen Werte zu zerstören. Vor diesem tragischen Hintergrund ist die Passivität der Schweiz nicht länger tragbar. Die Beerdigung des Rahmenabkommens war schon ein Fehler – die Unfähigkeit, ihn insbesondere vor dem Hintergrund des Kriegs wiedergutzumachen, entbehrt jeder Würde. Die Sanktionen gegen Russland genügen nicht: Die Schweiz muss aus ihrer Isolation heraustreten, um ihre Interessen zu wahren – und um ihre Solidarität mit einer EU zu bekräftigen, die unsere gemeinsamen Werte wie Frieden und Demokratie schützt.

Am 26. Mai 2021 hat das Schweizer Schiff mit einer Kanone in seinen eigenen Rumpf geschossen. Bei Untätigkeit ist der Untergang vorprogrammiert. Es ist also dringend notwendig, sich der EU anzunähern und den Weg der Integration wieder aufzunehmen. Ein Beitritt ist heute leider undenkbar, obwohl er für eine Schweiz im Herzen Europas die beste Lösung bleibt. Einen neuen, vorteilhafteren Wundervertrag zu erfinden, scheint unmöglich. Am einfachsten wäre es daher, der Bundesrat würde das abgelehnte Abkommen mit einigen gesichtswahrenden Präzisierungen wieder aus der Schublade holen. In unmittelbarer Zukunft scheint diese Rückkehr zur Weisheit jedoch schwierig – zu heftig ist das Rahmenabkommen allgemein schlechtgeredet worden. Nicht zuletzt bleibt der EWR, der wiederbelebt und einen mehrheitsfähigen Kompromiss bieten könnte.

Das Wichtigste ist, aus der Verdrängungslogik auszubrechen und eine Debatte ohne Tabus zu eröffnen. Ein weiteres Jahrzehnt auf dem Rücken der Jugend und der treibenden Kräfte des Landes zu vertrödeln, ist unvorstellbar. Wenn das Boot schwankt und zu sinken droht, muss man das Ruder in die Hand nehmen und den Kurs ändern.

11_François Cherix
10.11.2022

François Cherix

FRANÇOIS CHERIX ist Analyst, spezialisiert auf Strategie und politische Kommunikation. 2000 gründete er in Lausanne das Beratungsbüro Paradoxes, das für die Überwindung dogmatischer Positionen plädiert. Als Mitglied der SP Schweiz setzt sich Cherix für eine offene, humanistische und reformorientierte Linke ein. Er war Mitglied der verfassunggebenden Versammlung im Kanton Waadt und des Waadtländer Grossen Rates. Als überzeugter Europäer kämpft Cherix gegen Nationalismus und Populismus. Er war an der Gründung der damaligen Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs) beteiligt, die er mitpräsidierte. Heute begleitet er den Verein als Ehrenmitglied. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel veröffentlicht.
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