Interview mit Irène Kälin

© Keystone/Peter Klaunzer
Vor dem Hintergrund der Zeitenwende in Europa spricht Irène Kälin mit uns im Interview über den Krieg, ihren Besuch in der Ukraine, die europäische Sozial- und Umweltpolitik sowie über das Europa-Dossier in ihrer Zeit als Nationalratspräsidentin.

Die Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 hat viele Menschen überrascht. Wie haben Sie sich an jenem Morgen gefühlt, als Russland den Angriff auf diesen souveränen europäischen Staat gestartet hat?

Ich war sprachlos, wütend und unendlich traurig. Ich werde diesen Morgen – wie wohl die meisten von uns – nie vergessen. Ich brauchte mehr als einen Tag, um zu begreifen, dass mit diesem brutalen und mit nichts zu rechtfertigenden Angriffskrieg auf die Ukraine der Krieg auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt ist. Und dass es ein Angriff ist, der uns alle betrifft, weil er all unsere Werte attackiert und diese nicht nur mit Füssen tritt, sondern mit Waffengewalt aus dem Weg räumt und bombt.

«Es ist ein Angriffskrieg, der all unsere Werte attackiert und diese nicht nur mit Füssen tritt, sondern mit Waffengewalt aus dem Weg räumt.»

Sie sind im April in die Ukraine gereist. Welche Eindrücke hat dieser Besuch bei Ihnen hinterlassen?

Ich habe das Elend und die Zerstörung des Krieges gesehen. Wir haben die Vororte von Kiew besucht, die besonders brutal von den russischen Aggressionen heimgesucht wurden. Aber ich habe auch den Mut und die Zuversicht der Ukrainerinnen und Ukrainer gespürt, den Willen unsere Werte zu verteidigen und die Ukraine noch demokratischer wieder aufzubauen. Und das, obwohl das Ende des Krieges noch nicht in Sicht ist. Der Mut unserer ukrainischen Schwestern und Brüder ist bewundernswert und er wird mit jedem schrecklichen Tag dieses Krieges noch bewundernswerter.

Wie beurteilen Sie die Europäische Union (EU) im Kontext dieser Zeitenwende?

Die EU ist zusammengerückt und hat sofort gehandelt. Diese gemeinsame Entschlossenheit hat mich positiv überrascht und auch berührt. Gemeinsame Sanktionen, mitgetragene Solidarität und gemeinsame Werte lassen die EU seit langer Zeit wieder als Einheit erscheinen. Nie habe ich die EU so sehr als Familie der Solidarität empfunden, wie in diesem schrecklichen Moment, in welchem die Sicherheitsarchitektur ganz Europas in Frage gestellt wurde. Es ist eine Zeitenwende und wir alle bleiben gefordert, diesen neuen Zusammenhalt weiter zu kitten – auch wir als Schweiz, z. B. durch Beiträge an den Wiederaufbauprozess oder durch aktive Unterstützung der Ukraine mit humanitärer Hilfe.

«Nie habe ich die Europäische Union so sehr als Familie der Solidarität empfunden, wie in diesem schrecklichen Moment.»

Nicht nur vor dem Hintergrund des Kriegs: Umweltschutz und Sozialpolitik stehen weit oben auf der Prioritätenliste der Europäischen Kommission. Was sagen Sie als Mitglied der Grünen Partei zu den jüngsten Entscheidungen der EU zum Umweltschutz und zur Sozialpolitik?

Es ist richtig, dass die EU sowohl in ihrer Umwelt- als auch in ihrer Sozialpolitik ambitionierte Ziele verfolgt, wie etwa beim Green Deal oder bei der Mindestlohnrichtlinie. Denn wirksamer Klimaschutz und Armutsbekämpfung schliessen sich nicht aus, im Gegenteil. Haushalte mit geringem Einkommen tragen weniger dazu bei, dass sich das Klima erhitzt – zugleich belasten sie die Auswirkungen aber stärker. Klimaschutz hilft deshalb den Armen, wenn er richtig ausgestaltet ist. Das gilt für die Schweiz genauso wie für die EU: Umwelt und Klimaschutz muss sozialverträglich
sein. Und irgendwie tun wir uns alle damit schwer, das zu begreifen und entsprechend umzusetzen. Dabei ist es doch vollkommen klar, dass die Coiffeuse – deren Gehalt niedrig ist – nicht mit dem Auto zur Arbeit fährt, weil sie gerne autofährt, sondern weil sie nicht anders kann. Wir sind in der Schweiz genauso gefordert wie die EU und wir sollten gemeinsam einen sozialverträglichen Klimaschutz vorantreiben, statt mit dem Finger aufeinander zu zeigen.

Wie erklären Sie sich, dass die EU immer noch als rein wirtschaftliches oder sogar «neoliberales» Projekt wahrgenommen wird?

Die EU ist auch ein wirtschaftliches Projekt und aus Schweizer Perspektive war unser oberstes Interesse ja immer der Zugang zum Binnenmarkt. Und dabei ist mehr und mehr in Vergessenheit geraten, dass die EU weitaus mehr ist als ein rein wirtschaftlicher Zusammenschluss. Doch gerade jetzt in diesen Zeiten von Krisen und Krieg wird das für uns alle sichtbar und spürbar. Sie ist eine Wertegemeinschaft, zu der wir selbstverständlich auch gehören. Und sie ist solidarisch, wenn es beispielsweise um die Verteilung von Impfdosen oder um die drohende Energieknappheit geht, die uns alle betrifft.

Sie haben auch die Präsidentin des Europäischen Parlaments besucht. Inwiefern hat Sie das Europa-Dossier während Ihrer Präsidentschaft begleitet?

Die EU war noch nie so wichtig, wie in diesen Zeiten von Mehrfachkrisen (u.a. Klima, Covid-19-Pandemie, Energie) und Krieg. Und gleichzeitig tut sich die Regierung meines Landes mit dem Europa-Dossier schwer. Dies gilt umso mehr, als sie die Verhandlungen über das Rahmenabkommen abgebrochen hat. Dabei wissen wir doch, dass wir im Herzen von Europa nicht ohne die EU können. Es bräuchte von beiden Seiten einen Schritt aufeinander zu. Aber stattdessen gibt es von Seiten des Bundesrates alten Wein in neuen Schläuchen. Ich bedauere sehr, dass unsere Forschungszusammenarbeit mit der EU blockiert ist und sie den Preis dafür zahlen muss. Das macht mir Sorgen. Denn wir müssen einen Weg finden. Zusammen. Dazu gibt es keine Alternative.

© Union Européenne, [2022] – EP
Irène Kälin beim Besuch des Europäischen Parlaments in Brüssel, zusammen mit der Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (rechts) und Ständeratspräsident Thomas Hefti (links).

Am 6. Dezember dieses Jahres ist es 30 Jahre her, dass die Schweizerinnen und Schweizer den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt haben. Welche Bedeutung hat dieses Datum für Sie?

Auch wenn ich damals noch ein Kind war, respektiere ich den Willen der Schweizerinnen und Schweizer, die dazumal ein Nein in die Urne gelegt haben. Die Frage ist nicht, ob wir das Volksnein zum EWR heute als Fehler betrachten oder nicht, sondern, wie wir einen Weg finden können, um mit der EU in die Zukunft zu gehen: wirtschaftlich, freundschaftlich, aber vor allem, um die gemeinsamen Werte der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte zu stärken.

Welche Lehren ziehen Sie aus diesen 30 Jahren europäischer Politik? Sehen Sie einen Weg aus der Sackgasse, in der wir uns seit dem 26. Mai 2021 befinden?

Man kann aus einer Sackgasse in der Regel nur rückwärts raus oder wenden. Nun gilt es mit der EU einen Weg zu finden, der es uns ermöglicht, voranzukommen. Die Themen, die es zu diskutieren gibt, sind noch immer dieselben wie am 26. Mai und in all den Jahren davor. Mit Bagger und Kran – also politischem Willen, Pragmatismus und Kreativität – können wir die Sackgasse durchgängig machen. Und wenn die EU von der anderen Seite her auch zu baggern beginnen würde, dann bin ich überzeugt, dass wir zueinander durchdringen würden. Denn wir sind Nachbarn und haben jahrelang in Freundschaft zusammengelebt und zusammengearbeitet.

Was mich wirklich beunruhigt ist, dass weder der Bundesrat noch die zuständige Europäische Kommission bereit zu sein scheinen, die Bagger auffahren zu lassen. Von einem starken Europa profitieren wir alle. Wenn zwei sich streiten, dann freut sich nämlich der Dritte. Daran können weder die Schweiz noch die Mitglieder der EU ein Interesse haben. Und dort, wo unsere Beziehungen und Verträge bereits erodieren oder zur politischen Geisel genommen wurden – wie die Forschungszusammenarbeit im EUProgramm «Horizon Europe» – schneiden wir uns auch nur ins eigene Fleisch. Denn die Probleme unserer Zeit werden wir nur gemeinsam lösen und dabei darauf zu verzichten, dass die besten Forscherinnen und Forscher zusammenarbeiten, wäre absurd.

Welche Botschaft möchten Sie unseren Leserinnen und Lesern, die sich um die europäische Zukunft der Schweiz sorgen, abschliessend mitgeben?

Ich sorge mich auch. Europa und seine Werte schienen mir noch nie so wichtig und noch nie so in Gefahr wie in diesen Zeiten. Ich habe die Umfrage [Anm. d. Red.: in Auftrag gegeben und veröffentlicht von SRF am 22. September 2022] gesehen, die besagt, dass die jungen Menschen in der Schweiz kein Interesse an der EU haben. Vor 20 Jahren war ich sogar noch aktiv für einen EU-Beitritt. Das ist heute kein Thema mehr. Dennoch sind wir mitten in Europa, umgeben von Nachbarn, die Mitglieder der EU und des EWR sind. Wir sind auf gute und geregelte Beziehungen zu ihnen angewiesen. Und ja, Bagger machen Dreck und es wird uns etwas kosten. Aber ich bin überzeugt, dass der Preis, in der Sackgasse zu verharren, weitaus schmerzlicher und grösser sein wird, als eine Einigung mit der EU über unsere gemeinsame Zukunft zu finden. Wir kennen die möglichen Varianten, mit denen wir unsere Beziehungen zur EU sichern und ausbauen können, und damit der Schweiz eine europäische Zukunft ermöglichen: institutionelles Abkommen, EWR oder Beitritt. Lasst uns ohne Angst darüber debattieren und diese Grundsatzdiskussion wieder aufleben lassen. Wir leben in unsicheren Zeiten. Es herrscht Krieg. Wir müssen zusammenstehen. Und ich bin zuversichtlich, dass wir es können. Also bewegen wir uns!

GPS, GRUENE PARTEI DER SCHWEIZ, GRUENE,
10.11.2022

Irène Kälin

IRÈNE KÄLIN ist studierte Islamwissenschaftlerin und hat ein Masterstudium in Religionskulturen abgeschlossen. Sie lebt im Kanton Aargau, wo sie 2010 für die Grüne Partei in den Grossen Rat gewählt wurde. Von 2012 bis 2014 war sie Vizepräsidentin der Grünen Schweiz. 2017 ist sie für ihren zurückgetretenen Kollegen Jonas Fricker in den Nationalrat nachgerückt. Irène Kälin ist Präsidentin von ArbeitAargau, dem grössten Dachverband der Arbeitnehmenden im Aargau, sowie von BeznauVerfahren, einem Verein zur Unterstützung von Gegner:innen des Atomkraftwerks Beznau. Sie engagiert sie sich auch für eine Mobilität der Zukunft in der Aargauer Sektion des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS). Im Jahr 2022 ist Irène Kälin als Nationalratspräsidentin höchste Schweizerin.
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