Die Schweiz und der Europarat

Eine Flagge der Schweiz weht im Himmel.
Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten ist die Haltung der Schweiz gegenüber dem Europarat alles andere als banal. Denn einerseits gehört die Eidgenossenschaft zu den Ländern, die einst die stärksten Vorbehalte gegen ihn geäussert haben. Andererseits hat sich die Schweiz intensiv für diese Institution engagiert.

Grosse Vorbehalte der Schweiz

Die Schweiz war eingangs der 1960er-Jahre das einzige demokratische Land in Europa, das sich weigerte, dem Europarat beizutreten. Der Bundesrat, an absoluter Neutralität orientiert, erachtete die Organisation als zu supranational und militärisch fokussiert. Der für auswärtige Angelegenheiten zuständige Bundesrat Max Petitpierre hatte dem Europarat sogar diskret mitgeteilt, dass er kein Einladungsschreiben zum Beitritt erhalten wolle – um nicht offiziell ablehnen zu müssen. Die Schweiz zeichnet sich auch weiterhin dadurch aus, dass sie als eines der wenigen westeuropäischen Länder die revidierte Europäische Sozialcharta nicht ratifiziert hat. Die zahlreichen Versuche, diese Ratifizierung herbeizuführen, sind alle gescheitert.

Die Hoffnungen waren gross, als die Schweiz 1976 die Charta endlich unterzeichnete (aber nicht ratifizierte). In der Zwischenzeit war diese jedoch revidiert worden, und das Schweizer Parlament lehnte eine Ratifizierung trotz Druck aus linken Kreisen und positivem Bericht des Eidg. Departements für auswärtige Angelegenheiten (2014) ab. Und die Schweiz unterscheidet sich darin, dass sie der einzige Staat ist, in dem die Bürger:innen indirekt über einen Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) abgestimmt haben. Eine Annahme der SVP-Initiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative) » hätte nämlich dazu geführt, dass die Schweiz aus dem Europarat hätte austreten müssen, weil die Mitgliedschaft die Übernahme der EMRK voraussetzt. Letztlich lehnten 66,3% diese Initiative 2018 ab.

Intensives Engagement

Dennoch hat die Schweiz oft ein starkes Engagement im Europarat gezeigt. Dies dank individueller Initiative einiger Parlamentarier: innen und dem Wunsch, die internationale Marginalisierung zu mindern. Der Beitritt der Schweiz zum Europarat im Jahr 1963 erfolgte, nachdem der Bundesrat gewahr wurde, dass in Europa neue Formen der Integration ohne Schweizer Beteiligung entstanden waren. So war die 1958 ins Leben gerufene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erfolgreicher als erwartet. Auch der französische Präsident Charles de Gaulle, der anfangs dagegen war, wollte nun den Beitritt Frankreichs zur EWG. Das Vereinigte Königreich hatte gerade erst die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) mit der Schweiz gegründet, als es darum bat, diese wieder zu verlassen und der EWG beizutreten (1961).

Es ist also verständlich, dass der Bundesrat das dringende Bedürfnis hatte, die Schweiz aus ihrer diplomatischen Isolation herauszuführen. Umso mehr, als sie weder Mitglied der Vereinte Nationen (UNO) noch der NATO war. Im Kontext des beendeten Kalten Kriegs und der in Volksabstimmungen gescheiterten Versuche, den Vereinten Nationen (1986) und dem System der Europäischen Union (EWR, 1992) beizutreten, zeigten sich der Bundesrat sowie viele Parlamentarier: innen in den 1990er-Jahren sehr engagiert: Die Schweiz hatte damals kaum andere Möglichkeiten als den Europarat, um auf der europäischen Bühne aktiv zu werden. Dies führte oft dazu, dass nicht nur Diplomat: innen, sondern auch Parlamentarier: innen kreative Lösungen vorschlugen, um die Länder des ehemaligen kommunistischen Blocks, die vor allem von der NATO und der EU angetan waren, stärker einzubinden. Man beteiligte sich auch an zahlreichen Initiativen, um mehr Gerechtigkeit und Menschenrechte in die Länder zu bringen, die von den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien betroffen waren.

© René Schwok
07.11.2023

René Schwok

RENÉ SCHWOK ist ordentlicher Professor am Global Studies Institute und am Departement für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen der Universität Genf. Er war auch Direktor des Global Studies Institute und des Masterstudiengangs in European Studies. Derzeit ist er Direktor des Master of Advanced Studies in International Security und hält einen Jean- Monnet-Lehrstuhl für Politikwissenschaft. René Schwok ist auf Fragen im Zusammenhang mit der Aussendimension der Europäischen Union, den Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union sowie der Sicherheit in Europa spezialisiert. Er hat rund 20 Bücher und 100 Artikel veröffentlicht, hauptsächlich zu Fragen der europäischen Integration.