Die NATO und die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

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Fragen an Dr. Pierre Haroche, Dozent für internationale Beziehungen und internationale Sicherheit, Queen Mary University of London.

Was waren die Absichten von Emmanuel Macron, als er die Idee, eine europäische Armee zu gründen, wieder aufnahm?

Man muss sich den Kontext von vor einigen Jahren vergegenwärtigen. Dieser Vorschlag war für Präsident Macron eine Möglichkeit, die europäische Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich wiederzubeleben. Sowohl Macron als auch Angela Merkel stellten klar, dass es nicht um die Schaffung einer neuen Streitkraft ging, sondern um die Perspektive einer stärkeren Integration der nationalen europäischen Streitkräfte.

Vor kurzem traf Macron den neuen Präsidenten der Tschechischen Republik, Petr Pavel, und der Begriff «europäische Armee» ist offenbar dem Begriff «europäischer Pfeiler der Atlantischen Allianz» gewichen. Das verdeutlicht, dass es nicht primär um ein spezifisches Konzept geht, sondern dass eine allgemeinere Idee im Vordergrund steht: die Stärkung der europäischen Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich und die Fähigkeit der Europäer:innen, ihre Sicherheit zu gewährleisten.

Wenn man bedenkt, dass aktuell sechs EU-Mitgliedstaaten nicht der NATO angehören: Welche Bedeutung hat die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) angesichts der NATO-Beitrittsgesuche von Schweden und Finnland?

Das Hauptanliegen der GSVP bestand nie darin, eine politische Rolle für Nicht-NATO-Mitglieder zu übernehmen. Das wäre ein zu begrenztes Ziel gewesen. Ausserdem war die Zahl dieser Länder im Vergleich zum Grossteil der Mitgliedstaaten beider Organisationen (NATU und EU) immer relativ marginal. In der Vergangenheit gab es eine Arbeitsteilung zwischen der EU und der NATO: Die NATO war mehr auf die Verteidigung Europas und die EU mehr auf das Krisenmanagement ausserhalb Europas konzentriert. Für die Zukunft ist es vorstellbar, dass sich beide Einheiten mit der Verteidigung in Europa beschäftigen, aber mit unterschiedlichen Instrumenten. Auf der einen Seite würde die EU finanzielle und industrielle Instrumente einsetzen, die auf eine Integration der Kapazitäten abzielen. Auf der anderen Seite würde die NATO militärische Instrumente einsetzen, die auf eine operative Integration abzielen, d. h. die Fähigkeit, vor Ort zusammenzuarbeiten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beide Einheiten komplementäre Rollen spielen sollten, die weit über die Frage der Nichtmitgliedschaft bestimmter Länder in der NATO hinausgehen.

Welche Auswirkungen hätte es auf die GSVP, wenn 2025 ein Präsident ins Weisse Haus zurückkehrt, der möglicherweise für einen Rückzug der USA aus der NATO eintreten würde?

Man muss einen strukturellen und einen politischen Faktor berücksichtigen. Der strukturelle Faktor betrifft die Frage des Verhältnisses zwischen militärischen Investitionen in Europa und in Südostasien, hauptsächlich in Taiwan. Dieses Dilemma ist derzeit noch begrenzt, da es einerseits aufgrund des russischen Einmarschs in die Ukraine eine klare Priorität für Europa gibt und weil andererseits China derzeit nicht über die Kapazitäten verfügt, um in Taiwan einzumarschieren. Bis 2027 wird China dazu jedoch in der Lage sein. Dann werden sich die USA aus Europa zumindest teilweise zurückziehen, weil sie der Ansicht sind, dass sich ihre vorrangigen Investitionen in Form von Waffenlieferungen, militärischen Anstrengungen und Haushaltsausgaben auf Taiwan konzentrieren sollten. Bis dahin muss Europa also in der Lage sein, die Rolle des wichtigsten militärischen Unterstützers der Ukraine zu übernehmen. Denn selbst wenn der Krieg bis dahin beendet ist, werden die sicherheitspolitischen Spannungen nicht verschwunden sein.

Zu diesem strukturellen Faktor kommt ein innenpolitischer Faktor hinzu. Die Republikaner sind tatsächlich isolationistischer als die Demokraten. Ausserdem dürften die Republikaner ihre geostrategischen Prioritäten eher auf China als auf die Ukraine legen, weil sie in China mehr nationale Interesse tangiert sehen. Man kann aber sagen, dass dieses Problem selbst bei einer Regierung vom Typ Biden auftreten könnte, das Ausmass aber bei einer republikanischen Regierung vom Typ Trump oder DeSantis um ein Vielfaches grösser wäre.

Wie ist strategische Autonomie in Europa möglich, wenn sich z. B. Deutschland für den Kauf amerikanischer F-35-Flugzeuge entscheidet?

Strategische Autonomie bedeutet nicht, dass es um alles oder nichts geht. Wenn die Staaten nur in Europa einkaufen, entsteht ein europäischer Protektionismus – was nicht wünschenswert wäre, denn Europa ist zu sehr mit den USA verbunden, als dass es sich von heute auf morgen von ihnen abkoppeln könnte.

Im Hinblick auf die strategische Autonomie gibt es für Europa aber zwei wichtige Dimensionen: eine kapazitätsbezogene und eine operative Dimension. In Bezug auf die Kapazitätsdimension bräuchte es einen echten europäischen Verteidigungsmarkt, eine echte europäische Industrie und echte europäische Beschaffungen. Langfristig muss Europa über die begrenzten Instrumente wie die Europäische Friedensfazilität, den Europäischen Verteidigungsfonds oder die Finanzierung der gemeinsamen Beschaffung von Munition. Um einen Gesamtüberblick zu erhalten, würde die Schaffung eines europäischen Verteidigungshaushalts die Entstehung eines europäischen Verteidigungsmarktes und damit einer europäischen Verteidigungsindustrie fördern. Was die operative Dimension betrifft, so muss sichergestellt werden, dass die atlantische Allianz auch dann stark ist, wenn die Amerikaner für eine gewisse Zeit finanziell oder materiell weniger präsent sein sollten. Um dies zu erreichen, müssen im Rahmen der NATO mehr Übungen und Trainings vorgesehen werden. Die NATO muss sich auf einen echten europäischen Pfeiler stützen können, der nicht über die EU läuft. Daher sollte das Konzept der strategischen Autonomie nicht nur als ein Konzept für die EU, sondern auch als ein Konzept für die NATO gedacht werden.

Welche Möglichkeiten gibt es für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO?

Es gibt verschiedene, mögliche Formen der verstärkten Zusammenarbeit aber die wichtigste, die sich gerade in letzter Zeit herauskristallisiert hat, ist die der gegenseitigen Ergänzung. Diese Ergänzung muss politisch, wirtschaftlich, finanziell und industriell sein. Die Tatsache, dass es gemeinsame Themen wie Cyber Sicherheit oder militärische Sicherheit gibt, ist hinlänglich bekannt. Die wahre Verbindung zwischen den beiden Organisationen ist diese gegenseitige Ergänzung durch funktionale Arbeitsteilung, so dass sich beide Organisationen in ihrer Funktion legitimiert fühlen kann, während sie das gleiche Ziel verfolgen.

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23.03.2023

Dr. Pierre Haroche

Dozent für internationale Beziehungen und internationale Sicherheit, Queen Mary University of London