Europa – eine Prozedur zum Verlieben?

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«Nous faisons l’Europe. Wir machen Europa.»

Diesem Selbstverständnis begegnete ich oft, als ich ab 1973 in Brüssel zu ergründen versuchte, was für ein Gebilde da unter dem sperrigen Namen «Europäische Gemeinschaften» heranwuchs, eben erst von sechs auf neun Mitglieder erweitert. Die Organe der drei Gemeinschaften für Kohle und Stahl, für Wirtschaft und für Atomenergie waren zwar schon seit 1967 fusioniert, aber bis die EG auch amtssprachlich zum Singular verschmolzen war, sollte es 1993 werden. Gleichzeitig erklärten sich damals die mittlerweile zwölf Mitgliedstaaten zur Union. Dabei hatte schon der EWG-Gründungsvertrag von 1957 den Anspruch, die Grundlage einer «union sans cesse plus étroite entre les peuples européens» zu bilden; auf Deutsch freilich nicht «Union», sondern «Zusammenschluss».

Als ich Ende 1978 den Brüsseler Korrespondentenposten verliess, war Alltagspragmatismus statt Aufbruchstimmung das europäische «business as usual» geworden. Das Stichwort für meinen Abschiedsartikel lieferte mir der maltesische Premierminister Dom Mintoff, als er nach einem Treffen mit den EG-Aussenministern klagte, nun habe er erstmals in seinem Leben «nicht mit Menschen, sondern mit einer Prozedur gesprochen». Auch wenn es ihm nicht gefiel, hatte er damit etwas Wesentliches erfasst: Das Europa, das da gemacht wurde – und bis heute wird –, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es für alles und jedes, das gemeinsam angepackt werden soll, seine Prozeduren hat und sich ordentlich daran hält.

Nur: In eine Prozedur verliebt man sich nicht, so wenig wie in einen Binnenmarkt (was dessen «Erfinder» Jacques Delors öfters vermerkte). Und nicht einmal in eine Verfassung, wie ein belgischer Senator zu bedenken gab, als die nunmehr offizielle Union ein solches Grundgesetz anstrebte – letztlich erfolglos. Auch wenn das Verlieben schwerfällt, nicht nur den Unionsbürgern: Zu beobachten, wie dieses Europa um seine Form ringt, wie es gewachsen ist und bisher allen Stürmen getrotzt hat, ist faszinierend und hat mich als «Bund»-Redaktor nach meiner Brüsseler Zeit immer wieder beschäftigt. Eine Sammlung grösserer Artikel dazu ist nun im Internet greifbar (siehe Download).

30.10.2023

Daniel Goldstein

Daniel Goldstein war unter anderem Korrespondent in Brüssel 1973–1978, «Bund»-Redaktor in Bern 1979–1989 und 1993–2009 und Korrespondent in Washington 1989–1993.
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