Die Erweiterung des Europäischen Binnenmarkts: Eine Herausforderung?

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Der Ukraine-Krieg hat die Erweiterung des Europäischen Binnenmarkts wieder auf die politische Agenda gesetzt. Auch wenn die Motivation zuerst geopolitischer Natur ist, sollten die Herausforderungen einer vollständigen Marktintegration nicht unterschätzt werden – sowohl für die Beitrittsländer als auch für die Europäische Union.

Seit der letzten grossen Osterweiterung (2004-2007) haben sich die Grenzen der EU kaum verändert. Stattdessen hat sich die Union darauf fokussiert, den Binnenmarkt mittels bilateraler Handels- und Kooperationsabkommen auf Drittländer auszudehnen.

Der präferenzielle Zugang zum Binnenmarkt kam zwar den allmählich integrierten Volkswirtschaften zugute. Er diente aber auch dazu, diese Länder an das Regel- und Wertesystem der EU zu binden, ohne ihnen eine volle Entscheidungsteilhabe zu gewähren. Dank dieser Vorbehalte erlangte der Binnenmarkt eine regelrecht globale regulatorische Hegemonie, die seinen politischen Einfluss begründet. So werden die Beziehungen zwischen der EU und den westlichen Balkanstaaten mit Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) geregelt. Bis ihnen an der Tagung des Europäischen Rates im Juni 2022 der Beitrittskandidatenstatus zugesprochen wurde, regelte die EU das Verhältnis zu Moldau und Ukraine durch das umfassende und vertiefte Freihandelsabkommens (DCFTA) von 2014. Der neue Status hat den Beitrittsprozess der Balkanländer, die seit dem Gipfeltreffen in Zagreb 1999 im «Vorzimmer» der EU ausharren, wieder in Gang gebracht.

Langfristige Herausforderungen

Die Volkswirtschaften, die noch weit von den europäischen Standards entfernt sind, sehen sich vor der schwierigen Aufgabe, die wirtschaftlichen und rechtlichen Kriterien der Union zu erfüllen. Um die Anforderungen des Konditionalitätsmechanismus im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit zu erfüllen, müssen die Ukraine und Moldau etwa umfassende Reformen in der Korruptionsbekämpfung und der Justizunabhängigkeit durchführen.

Für die EU hingegen gilt: Während die Erweiterung um Slowenien und Kroatien wirtschaftlich erfolgreich war, ist der Beitritt von Rumänien und Bulgarien immer noch umstritten.

Neue Erweiterungswelle

Die neue Erweiterungswelle verstärkt die Divergenzen innerhalb des Marktes und führt dazu, die Zukunft des Binnenmarktes im Hinblick auf die Konvergenz der Sozial- und Wirtschaftspolitik neu zu überdenken. Die Aussicht auf den Beitritt von Staaten mit weniger entwickelten Volkswirtschaften bedeutet auch notwendige Reformen des EU-Haushalts, insbesondere der Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik und den Kohäsionsfonds. Dazu kommen notwendige Änderungen im Acquis communautaire und insbesondere bezüglich des Einstimmigkeitsprinzips, denn durch mögliche Blockaden von Staaten, die bereits von regionalen Spannungen hin- und hergerissen sind (Serbien-Kroatien, Serbien- Albanien, Kosovo-Frage usw.) droht eine Lähmung der institutionellen Abläufe in der EU.

Abgesehen von den wirtschaftlichen Vorteilen, die eine Binnenmarkterweiterung für den Wettbewerb mit sich bringt und der kraftvollen Symbolik, die mit dem Ukrainekrieg neue Brisanz erlangt hat, scheint die EU bei der erneuten Erweiterung darauf abzuzielen, ein globaler Player und eine europäische politische Gemeinschaft zu werden.

Gestärkt durch die normative Kraft des Binnenmarkts, muss die EU ihre Erweiterung um die westlichen Balkanstaaten, die Ukraine und Moldau zum Anlass nehmen, ihre wirtschaftliche und institutionelle Struktur zu reformieren.

Lefeuvre_Solena
16.06.2023

Solena Lefeuvre

Solena Lefeuvre ist Forschungsassistentin für europäische Wirtschaftspolitik am Jacques-Delors-Institut in Paris. Sie ist auf EU-Angelegenheiten spezialisiert, nachdem sie ihr Studium an der Sciences Po Saint-Germain-en-Laye, der Universität Florenz und der Universität Rom absolviert und anschliessend einen Master in Geopolitik an der Universität Paris 1-Panthéon Sorbonne und der Ecole Normale Supérieure in Paris gemacht hat. Sie hat sich mit den europäischen Mechanismen zur Krisenbewältigung und der Reform der Wirtschaftspolitik nach der Finanzkrise 2007-2008 befasst. Am Jacques-Delors-Institut ist sie nun an einem Forschungsprojekt zu gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der Covid-19-Krise auf nationaler, europäischer und globaler Ebene beteiligt und wirkt mit bei der Vorbereitung einer Bürger:innenbefragung zur Desinformation in der Politik.