Der Binnenmarkt ist zweifellos eine der grössten Errungenschaften der Europäischen Union. Als Motor für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand hat er den Handel zwischen den Mitgliedstaaten seit seiner Einführung 1993 erheblich gefördert und Handelsbarrieren abgebaut. Das Handelsvolumen innerhalb der EU hat sich zwischen 1993 und 2020 mehr als verdoppelt.
Auch für die Schweiz spielt der Binnenmarkt eine zentrale Rolle, obwohl sie kein EU-Mitglied ist. 2021 betrug das Handelsvolumen zwischen der Schweiz und der EU rund 265 Mrd. Schweizer Franken, wobei die EU 46% der schweizerischen Exporte und 62% der Importe ausmachte.
Um die Vorteile des Binnenmarkts weiterhin nutzen zu können, ist es für die Schweiz von entscheidender Bedeutung, eine stabile politische Beziehung zur EU aufrechtzuerhalten. Über 120 bilaterale Verträge bilden den Rahmen für die Zusammenarbeit. Die wichtigsten sind chronologisch das Freihandelsabkommen von 1972, die Bilateralen I von 1999 und die Bilateralen II von 2004. Allerdings haben sich in den letzten Jahren zwischen Schweiz und EU offene Punkte ergeben, die eine einwandfreie Umsetzung der bilateralen Verträge nicht mehr gewährleisten. Mit einer vertraglichen Weiterentwicklung kann sichergestellt werden, dass die Schweiz weiterhin am Binnenmarkt teilhaben kann. Zudem besteht die Chance einer Ausdehnung des Marktzugangs auf weitere Sektoren (z.B. Strom) mit den damit verbundenen Chancen für unser Land.
In welche Richtung wird sich der Binnenmarkt in den kommenden Jahren entwickeln? Diverse Massnahmen der EU-Kommission ergeben eine zunehmende Abschottung vom Weltmarkt. Beispielsweise zielt die EU-Industriestrategie darauf ab, den Binnenmarkt widerstandsfähiger gegenüber Störungen und folglich die europäische Wirtschaft unabhängiger von globalen Lieferketten zu machen. Diese Entwicklung widerspricht der Globalisierung mit ihren positiven Wohlstandseffekten für alle beteiligten Länder – und somit auch der weltoffenen Haltung der Schweiz.
Ein weiterer kritischer Punkt ist die Gefahr einer Überregulierung der Wirtschaft durch die EU. Besonders die administrativen Kosten für das Umsetzen von EU-Regulierungen steigen für Unternehmen stetig an. Im Zeitraum von Januar 2015 bis Juni 2019 beispielweise betrug die kumulative Belastung der deutschen Wirtschaft aus der Umsetzung von EU-Recht insgesamt 550 Mio. Euro (gemäss dem deutschen Normenkontrollrat). Als Nicht-Mitglied sollte die Schweiz darauf achten, dass unternehmerisches Handeln möglich bleibt und nicht durch übermässige Regulierung erstickt wird.
Gleichzeitig gewinnen neben der EU andere Märkte für die Schweiz an Bedeutung, auch wenn sie klar auf zweiter Position rangieren: Im Zeitraum von 2000 bis 2022 stiegen die Exporte der Schweiz nach Asien um 176%, während die Exporte in die EU im selben Zeitraum um 87% zunahmen. 2022 entsprachen die Ausfuhren nach Asien 42% der Ausfuhren in die EU – 2000 lag dieses Verhältnis noch bei 29%.
In dieser komplexen Situation findet sich die Schweiz in einer Doppelrolle. Einerseits möchte sie aus heutiger Sicht weiterhin den möglichst diskriminierungsfreien Zugang zum Binnenmarkt behalten. Darum ist es für die Schweiz unerlässlich, eine neue vertragliche Basis mit der EU auszuhandeln und so ihre Beziehung auf eine solide Grundlage zu stellen. Andererseits sollte die Schweiz für Offenheit gegenüber anderen Handelspartner: innen, konkret gegen Abschottungstendenzen des Binnenmarktes einstehen und darauf hinwirken, dass die Vorteile der Globalisierung erhalten bleiben. So kann das volle Potenzial des Binnenmarkts auch künftig genutzt und weiterentwickelt werden.