Die aktuelle Energiekrise als Chance für Reformen?

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Die Europäische Union steht vor vielen grossen Herausforderungen: der Krieg in der Ukraine, die Klimakrise, das Aufkommen euroskeptischer Parteien und … der Winter. Als Vergeltung für die Sanktionen und die europäische Unterstützung der Ukraine hat Russland seine Gasexporte, von denen Europa abhängig ist, stark reduziert.

Die EU durchläuft unfreiwillig eine Krise nach der anderen. Während sich die Welt langsam von einer zweijährigen Pandemie mit historischen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen erholte, stürzte der russische Angriffskrieg in der Ukraine den Kontinent erneut in Unsicherheit und Instabilität. Der Konflikt erweiterte sich durch die Blockade von Getreideexporten aus der Ukraine schnell zu einer Nahrungsmittelkrise. Und das Regime von Präsident Wladimir Putin hat es verstanden, die Abhängigkeit Europas von russischen Gasexporten für seine Zwecke auszunutzen und provoziert damit eine europäische Energiekrise. Die Folgen sind bereits spürbar und das Szenario einer Knappheit ist erstmals seit der Ölkrise in den 1970er-Jahren wieder in der öffentlichen Debatte präsent!

Um dem entgegenzuwirken, hat die Europäische Kommission vorgeschlagen, einerseits den Stromverbrauch zu senken und andererseits die Energieversorgung zu diversifizieren, indem man sich Lieferanten wie den USA oder Algerien zuwendet und erneuerbare Energien sowie Kernkraft nutzt. Ausserdem will sie den Gaspreis deckeln und die «Übergewinne» der Produzenten von billigem Strom abschöpfen, um sie in Form von Subventionen an Industrie und Verbraucher:innen weiterzugeben. Wir sind also weit entfernt vom Stereotyp einer neoliberalen Union!

Zusammenhalt in Krisen

Die Covid-19-Pandemie hatte unter anderem zur Folge, dass die Mitgliedstaaten gemeinsam Impfstoffe kauften und das Konjunkturprogramm #NextGenerationEU lancierten, das durch gemeinsame Anleihen finanziert wird. Historische Fortschritte! Jean Monnet, der Gründervater der EU, brachte es auf den Punkt: «Europa wird in Krisen entstehen und es wird die Summe der Lösungen sein, die für diese Krisen gefunden werden.» So sind als Reaktion auf die Energiekrise und die steigende Inflation neue Diskussionen über gemeinsame Gaseinkäufe oder die Schaffung eines zweiten Fonds, der durch gemeinsame Verschuldung finanziert wird, aufgekommen. Die Meinungen dazu sind geteilt, einige Mitgliedstaaten sind dagegen – aber die früher gemeinsam erarbeiteten Antworten sind den Staats- und Regierungschefs im Gedächtnis geblieben. Die EU – ihre Funktionsweise, ihre Legitimität, ihre Daseinsberechtigung – wird einmal mehr auf eine harte Probe gestellt. Die EU wird solidarisch sein, oder sie wird verschwinden.

Ein «neues» Europa

Vor diesem Hintergrund muss die EU mehr denn je hervorheben, dass sie im Dienst der Bevölkerung steht. Die Folgen des Krieges in der Ukraine, der Inflation, der Energiekrise oder des Klimawandels beeinflussen das tägliche Leben von uns allen. Ursula von der Leyen erinnerte daran, dass «die demokratischen Institutionen das Vertrauen der Menschen ständig gewinnen und wiedergewinnen müssen». Die EU habe keine andere Wahl, als «sich den neuen Herausforderungen zu stellen, die die Geschichte ihr ständig in den Weg legt». Der Krieg in der Ukraine und der dadurch ausgelöste Epochenwechsel bestätigen, dass die EU sich reformieren muss. Das Europäische Parlament, unterstützt von der Kommissionspräsidentin, tut daher gut daran, die Einberufung eines Europäischen Konvents zu fordern, um die Diskussion über die Zukunft Europas fortzusetzen. Fast zwanzig Jahre nach dem Vertrag von Lissabon ist die Zeit reif für eine «neue» EU.

10.11.2022

Raphaël Bez und Alexis Vrettos

Generalsekretär und Mitarbeiter der Europäischen Bewegung Schweiz
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